Im Teufelskreis gefangen
Magersucht und Bulimie haben Sabine Langenegger* über Jahre hinweg begleitet. Heute befindet sie sich in einer stabilen Lebensphase ohne Mager-, Ess- und Brechsucht. Ein wichtiger Teil davon ist die Selbsthilfegruppe der Region Olten, welche seit diesem Frühling angeboten wird.
Region «Nichts schmeckt so gut wie das Gefühl, dünn zu sein.» Nach diesem Motto lebt nicht nur Kate Moss. Betroffene von Essstörungen gibt es in jedem Alter, jeder mit seiner eigenen Geschichte. Das Thema Gewicht hat Sabine Langenegger von klein auf begleitet: «Als Kind war ich mollig und wurde deswegen oft gehänselt.» In der Pubertät nahmen ihre Gedanken eine Wende, sie fing an, exzessiv Sport zu treiben. Von sich selbst sagt sie: «Ich war immer ein Mensch, der in Extreme hineingelebt hat.» In die Bulimie ist Sabine Langenegger durch einen «saublöden» Umstand gekommen: «Ich war am Fasten und meine Freundin meinte «weisst du, ich löse das ganz einfach mit Erbrechen». Ansonsten wäre ich kaum dazu gekommen.» Die Esskrankheit begleitet die Frau seither, auch wenn es zwischendurch immer wieder suchtfreie Jahre gegeben hat: «Die Sucht ist sehr flexibel. Man kann sie zum Beispiel auch als Arbeits- oder Beziehungssucht ausleben, was bei mir zeitweise der Fall war, wenn ich mich nicht übergeben habe.»
Viele Tiefpunkte
Mit 28 Jahren liess sich Langenegger zum ersten Mal in eine psychosomatische Klinik in Deutschland einweisen. Es sei einer von vielen Tiefpunkten ihrer Leidensgeschichte gewesen. Obwohl sie krankheitsbedingt sehr schlank war, fand in ihrem Kopf immer noch ein Irrdenken statt: «Ich habe mich anders wahrgenommen. Auch der Vergleich mit anderen Frauen nützte nichts.» So hat sich die Pflegefachfrau auch mit 48 Kilos noch nicht dünn genug gefühlt. Sabine Langenegger erklärt, dass ihr Krankheitsbild von verschiedenen Phasen geprägt wurde. Heute hat sie zwar einen gesunden Bezug zum Essen aufgebaut und kann dieses wieder geniessen. Gedanken an das Gewicht hat sie allerdings immer noch.
«Wir orientieren uns am Leben»
Heute stärkt sich Sabine Langenegger mit gelegentlichen Einzeltherapien und der Selbsthilfegruppe Kanton Solothurn, welche diesen Frühling gegründet wurde. Die Mitglieder treffen sich einmal alle drei Wochen. Ziele wurden zu Beginn klar definiert, denn eine solche Gruppe kann auch Schattenseiten hervorbringen: «Je nach Zusammensetzung besteht die Gefahr, sich gegenseitig runterzuziehen.» Deshalb sei es eine Voraussetzung, nebst den Selbsthilfegruppentreffen über eine persönliche, psychotherapeutische Begleitung zu verfügen. Sabines Gruppe besteht aus vier Personen und will sich am Leben orientieren, sich gegenseitig Mut machen und als Gemeinschaft wachsen statt in der Vergangenheit zu grübeln. «Mir ist es ein grosses Anliegen, meine Erfahrungen zu teilen. Damit kann ich dazu beitragen, dass junge Leute nicht den gleichen jahrzehntelangen Kampf durchmachen müssen.»
Doch wie findet man sich damit ab, sein Leben an eine Sucht zu verlieren? «Diese Gedanken mache ich mir nicht mehr. Es gab Zeiten, in denen ich mich gefragt habe, warum und wieso ich? Heute bin ich an einem anderen Punkt angelangt; ich arbeite sozusagen mit einem Werkzeugkoffer, den ich mir über die Jahre zugelegt habe, um mit meiner Lebenssituation fertig zu werden.» Dadurch halte sie auch schwierige Situationen aus und umgehe einen Absturz, welchen es in früheren Jahren oft gegeben habe. Es ist ein Prozess, welcher einen lehrt, dass man alles fühlen darf.
Fluch und Segen zugleich
Obwohl die Magersucht wie auch die Bulimie Sabine einen schweren Lebensweg mit vielen Tiefpunkten beschert haben, sieht sie ihre Krankheit gleichzeitig als grösste Lebenschance und Geschenk: «Ich habe sehr feine Sensoren entwickelt und merke schneller, wenn etwas in meinem Körper oder meiner Gefühlswelt nicht stimmig ist. Auch wäre ich ohne Essstörung kaum so an mir selbst gewachsen. Es hat mich auf einen Weg gebracht, den ich freiwillig sicher nie gegangen wäre.»
Im Freundeskreis wissen alle vom Schicksal der Frau. Das Verständnis sei gross, auch weil sie heute um Hilfe bitten kann, was früher nie in Frage gekommen wäre. Aus der Sucht rauszukommen, hat nur bedingt mit dem Wille zu tun, weiss Langenegger aus eigener Erfahrung. Heute hat die 50-Jährige einen Weg gefunden, mit ihrer Krankheit umzugehen und kann sagen: «Mir geht es echt gut!» Lebensthemen, die sie viele Jahre mit der Sucht zu lösen versucht hatte, werden sie wohl ihr ganzes Leben begleiten – heute allerdings in einer bewusst gefühlten Form.
25 Jahre Kontaktstelle Selbsthilfe Kanton Solothurn
In diesem Jahr feiert die Kontaktstelle Selbsthilfe Kanton Solothurn, zu welcher auch die Gruppe für Magersucht- und Bulimiebetroffene gehört, ihr 25-jähriges Bestehen. Von A wie ADHS über K wie Kindstod bis Z wie Zöliakie: In rund 80 Selbsthilfegruppen treffen sich regelmässig Menschen aus allen Alters-, Berufs- und Gesellschaftsschichten. Sie teilen Erfahrungen über ihre Krankheiten und persönlichen Krisen. Diese Begegnung stärkt.
*Name von Redaktion geändert
Von Céline Bader